Gesehen und angesprochen werden
"Dein Ort ist / wo Augen dich ansehn./ Wo sich die Augen treffen / entstehst du.//
Von einem Ruf gehalten,/ immer die gleiche Stimme,/ es scheint nur eine zu geben / mit der alle rufen.//
Es gibt dich / weil Augen dich wollen,/ dich ansehn und sagen / dass es dich gibt."
Mit diesen Strophen des Gedichts „Es gibt Dich“ beschreibt Hilde Domin meisterhaft das „Angesehen – Werden“ und „Angesprochen - Werden“, durch das wir entstehen und wachsen. Sie werden uns meist erst als Bedürfnis oder Sehnsucht nach Anerkennung und Wertschätzung bewusst, wenn wir sie nicht erleben. Im Gedicht wird auch die Verheißung hörbar, dass wir in allem Angesehen – und Angesprochen – Werden wirklich zutiefst angesehen und angesprochen sind.
Für uns Christen ist jedes „Ansehen“ und „Ansprechen“, das wirklich den anderen meint, eine „Verheißung“, die Menschen aufbrechen, ihren Weg suchen, auf andere zugehen und eingehen, umkehren und neu anfangen lässt. Sie lassen uns den ahnen, der uns letztlich in allem ansieht und anspricht.
Die heutige Neurobiologie und Genetik bestätigen auf beeindruckende Weise, wie „Liebe“ oder „Sorge“ Motor der menschlichen Entwicklung ist.
Gerade junge Menschen, die ihre Identität suchen, hungern danach, gesehen und angesprochen zu werden, für jemand wichtig zu sein, oder - wie wir sagen - sie suchen „Anerkennung“ und „Wertschätzung“. Sie sind bereit, dafür viel zu tun. Das macht sie auch verletzlich und verführbar.
Da wir davon überzeugt sind, dass „ansehen“ und „ansprechen“ für die Menschwerdung und die menschliche Entwicklung fundamental sind, wollen wir junge Menschen ansehen und ansprechen, damit sie sich angenommen wissen und Vertrauen gewinnen, sich ernst genommen fühlen und sich etwas zutrauen, Selbstwertgefühl entwickeln und sich einlassen, Selbstwirksamkeit erleben und Selbstvertrauen gewinnen, von sich absehen und den anderen sehen und schließlich Verantwortung übernehmen.